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Wesentliche Vertragsänderungen nach § 132 GWB – Wann bleibt eine Anpassung ausschreibungsfrei?

– Wann ist eine Vertragsänderung vergaberechtsfrei?

Wann dürfen öffentliche Auftraggeber Verträge ändern, ohne ein neues Vergabeverfahren durchzuführen? Diese Frage beschäftigt regelmäßig Beschaffungsstellen, insbesondere bei langlaufenden Rahmenvereinbarungen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit seinem Urteil vom 16. Oktober 2025 (C-282/24 – Polismyndigheten) erstmals konkretisiert, unter welchen Bedingungen eine sogenannte De-minimis-Änderung nach § 132 Abs. 3 GWB und Art. 72 Abs. 2 RL 2014/24/EU zulässig ist.

Die Entscheidung bringt mehr Klarheit darüber, wann eine Anpassung während der Vertragslaufzeit vergaberechtsfrei bleibt und wann sie als wesentliche Vertragsänderung einzustufen ist. Damit liefert sie eine wichtige Orientierung für alle öffentlichen Auftraggeber, die in der Praxis regelmäßig mit Änderungen laufender Verträge konfrontiert sind.

Rechtlicher Hintergrund – § 132 GWB und Art. 72 RL 2014/24/EU

Die De-minimis-Änderung fungiert als Safe-Harbour-Regelung des Vergaberechts. Sie erlaubt es Auftraggebern, Verträge oder Rahmenvereinbarungen während der Laufzeit zu ändern, ohne ein neues Vergabeverfahren zu eröffnen. Voraussetzung ist, dass der Gesamtcharakter des ursprünglichen Auftrags unverändert bleibt und die Wertgrenzen des § 132 Abs. 3 Satz 1 GWB (10 % bei Liefer-/Dienstleistungen, 15 % bei Bauaufträgen) nicht überschritten werden. Bislang war unklar, wann eine Änderung den Gesamtcharakter beeinflusst. Das Urteil des EuGH in der Rechtssache Polismyndigheten liefert hierzu eine wegweisende Auslegung und schafft unionsweit einheitliche Kriterien.

Der Fall Polismyndigheten – Hintergrund und Ausgangslage

Eine schwedische Polizeibehörde hatte Abschleppdienstleistungen im Rahmen einer Rahmenvereinbarung ausgeschrieben. Bewertet wurde ausschließlich nach dem niedrigsten Preis. Der günstigste Bieter bot für Transporte im Umkreis von zehn Kilometern einen Festpreis von null Euro, während für längere Strecken Kilometerzuschläge von 16,50 € bzw. 24,50 € vorgesehen waren. Nach Zuschlagserteilung änderten die Parteien einvernehmlich und ohne neues Vergabeverfahren den Vertrag: Der Radius des Festpreisbereichs wurde auf 50 Kilometer ausgeweitet, der Festpreis auf 400 € erhöht und die Kilometerpauschalen auf 2,50 € bzw. 5 € reduziert. Trotz dieser Anpassung stieg der Gesamtauftragswert um weniger als zehn Prozent.

Das nationale Nachprüfungsgericht sah darin jedoch eine wesentliche Vertragsänderung, die den Wettbewerb hätte beeinflussen können, und legte die Frage dem EuGH vor, ob eine solche Anpassung zugleich den Gesamtcharakter der Rahmenvereinbarung im Sinne des Art. 72 Abs. 2 RL 2014/24/EU bzw. § 132 Abs. 3 GWB verändert.

Entscheidung des EuGH – Klärung des Gesamtcharakters

Der EuGH stellte klar, dass öffentliche Aufträge grundsätzlich nicht ohne neues Vergabeverfahren geändert werden dürfen. Nur in den abschließend geregelten Fällen des Art. 72 RL 2014/24/EU bzw. § 132 GWB ist eine Änderung zulässig. Zu diesen Ausnahmen gehört die De-minimis-Änderung, bei der die Wertgrenzen eingehalten werden müssen und der Gesamtcharakter unverändert bleibt.

Der Begriff des Gesamtcharakters wird weder in der Richtlinie noch im GWB definiert. Nach Ansicht des EuGH sind darunter nur Änderungen zu verstehen, die so tiefgreifend sind, dass sie den Auftrag in seiner Gesamtheit verändern. Art. 72 Abs. 2 RL 2014/24/EU unterscheidet ausdrücklich zwischen „wesentlichen Änderungen“ und „Änderungen des Gesamtcharakters“. Der Gerichtshof betont, dass eine Gleichsetzung dieser Begriffe den Anwendungsbereich der De-minimis-Regelung leerlaufen ließe. Nur gravierende strukturelle Änderungen, die den Auftrag inhaltlich umgestalten, fallen darunter.

Systematische und teleologische Auslegung des EuGH

In den Erwägungsgründen 107 und 109 der Richtlinie 2014/24/EU wollte der europäische Gesetzgeber öffentlichen Auftraggebern eine begrenzte Flexibilität einräumen, um auf veränderte Umstände zu reagieren. Der EuGH hebt hervor, dass diese Spielräume nur dann greifen, wenn der Wettbewerb und die Transparenz gewahrt bleiben. Würde man jede wesentliche Änderung als Veränderung des Gesamtcharakters verstehen, verlöre § 132 Abs. 3 GWB seine praktische Bedeutung. Die Vorschrift dient gerade dazu, geringfügige Änderungen zu ermöglichen, ohne dass ein erneutes Vergabeverfahren erforderlich wird.

Zweck und Bedeutung von § 132 GWB

Der zentrale Zweck von § 132 GWB besteht darin, öffentlichen Auftraggebern Rechtssicherheit und Flexibilität zu verschaffen. Die Vorschrift erlaubt Anpassungen, die zur praktischen Durchführung eines Auftrags notwendig sind, ohne den Gleichbehandlungsgrundsatz zu verletzen. Entscheidend ist dabei, dass eine Änderung nicht den Kern des Vertragsverhältnisses verändert. Eine wesentliche Vertragsänderung liegt nur dann vor, wenn die Änderung den Gegenstand, die Art oder das wirtschaftliche Gleichgewicht des Auftrags grundlegend verschiebt.

Keine Veränderung des Gesamtcharakters bei angepasster Vergütung

Der EuGH betont, dass eine Anpassung der Vergütungsstruktur, die lediglich zu einer geringfügigen Erhöhung oder Minderung des Auftragswerts führt, regelmäßig zulässig ist. Nur wenn sich das Verhältnis zwischen fester und variabler Vergütung so stark verändert, dass das vertragliche Gleichgewicht grundlegend gestört wird, liegt eine unzulässige Änderung des Gesamtcharakters vor. Damit schafft das Urteil klare Leitplanken für den Umgang mit Preis- und Leistungsanpassungen im Rahmen bestehender Verträge.

Rechtliche Würdigung – Differenzierung und Harmonisierung

Art. 72 RL 2014/24/EU harmonisiert unionsweit die Voraussetzungen, unter denen öffentliche Aufträge ohne neues Verfahren geändert werden dürfen. Nationale Vorschriften wie § 132 GWB müssen daher im Lichte dieser europäischen Maßstäbe ausgelegt werden. Der EuGH führt eine dreidimensionale Auslegung des Gesamtcharakters ein: Wortlaut, Systematik und Zweck der Norm sind gleichrangig zu berücksichtigen. Nicht jede wesentliche Änderung verändert automatisch den Gesamtcharakter, wohl aber jede Veränderung des Gesamtcharakters stellt eine wesentliche Änderung dar. Diese Differenzierung schafft mehr Rechtssicherheit und verhindert eine Überdehnung des Ausschreibungszwangs.

Präzisierung des Erwägungsgrunds 107 – Keine starre Grenze

Der EuGH korrigiert zugleich ein häufiges Missverständnis: Erwägungsgrund 107 RL 2014/24/EU, wonach Änderungen, die den Ausgang des ursprünglichen Vergabeverfahrens beeinflusst hätten, grundsätzlich neu auszuschreiben sind, ist nicht als absolute Grenze zu verstehen. Vielmehr wollte der Richtliniengeber sicherstellen, dass geringfügige Anpassungen unterhalb der Schwellenwerte jederzeit zulässig bleiben. Eine Änderung des Gesamtcharakters liegt also nicht schon dann vor, wenn eine Bedingung des ursprünglichen Verfahrens anders ausgefallen wäre, sondern nur, wenn sich die Natur oder das Wesen des Auftrags selbst verändert.

Eigenständiger Prüfungsmaßstab „Gesamtcharakter“

Die Wahrung des Gesamtcharakters ist nach der Entscheidung des EuGH ein eigenständiger Prüfschritt bei der Anwendung des § 132 Abs. 3 GWB. Eine rein quantitative Betrachtung – etwa durch Summierung der Änderungswerte – genügt nicht. Stattdessen ist eine qualitative Bewertung der Vertragsänderung erforderlich. Nur wenn Art, Zweck oder wirtschaftliche Balance des Auftrags substanziell betroffen sind, liegt eine Veränderung des Gesamtcharakters vor.

Damit widerspricht der EuGH Stimmen in der Literatur, die allein auf Prozentwerte abstellen, und stärkt die differenzierte Einzelfallprüfung.

Kriterien für die Veränderung des Gesamtcharakters

Nach Auffassung des EuGH sind drei Fallgruppen maßgeblich:

  1. Grundlegende Änderung des Vertragsgegenstands, etwa wenn Liefer- durch Bauleistungen ersetzt werden.
  2. Grundlegende Änderung der Auftragsart, beispielsweise wenn ein Dienstleistungsvertrag in eine Konzession übergeht.
  3. Grundlegende Verschiebung des vertraglichen Gleichgewichts, wenn der Auftragnehmer durch neue Vergütungsmechanismen deutlich bessergestellt wird.

Die letzten beiden Kategorien sind besonders praxisrelevant, da sie häufig bei Leistungsanpassungen auftreten. Entscheidend ist stets, ob die Änderung zu einer „völligen Umwälzung“ der Systematik führt oder nur eine geringfügige Modifikation bleibt.

Berechnung der Änderungswerte – Kumulative Betrachtung

Für die Anwendung der Geringfügigkeitsgrenzen gilt: Maßgeblich ist der Wert der jeweiligen Änderung, bezogen auf den aktuellen, ggf. preisangepassten Vertragswert (§ 132 Abs. 4 GWB). Werden mehrere Änderungen vorgenommen, sind ihre Werte zusammenzurechnen. Überschreitet erst die letzte Änderung die Grenze, wird nur diese vergabepflichtig, während vorherige Anpassungen wirksam bleiben. Liegt der Änderungswert über den Grenzen, ist zu prüfen, ob eine der übrigen fünf Ausnahmeregelungen des § 132 GWB greift. Damit stellt der Gesetzgeber sicher, dass Auftraggeber auch bei dynamischen Verträgen Rechtssicherheit behalten.

Praktische Konsequenzen und Empfehlungen

Für öffentliche Auftraggeber bedeutet das Urteil vor allem eines: Sorgfalt und Dokumentation.
Jede Änderung sollte nachvollziehbar begründet und mit Verweis auf § 132 Abs. 3 GWB dokumentiert werden. Dabei sind sowohl der monetäre Wert als auch die qualitative Wirkung auf den Vertragszweck zu prüfen. Die Einhaltung der 10 %- bzw. 15 %-Grenzen reicht allein nicht aus, wenn sich das Vertragsgefüge erheblich verändert. Eine strukturierte Prüfroutine und rechtliche Bewertung sind daher unverzichtbar.

Fazit – Mehr Klarheit, aber auch Verantwortung

Das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-282/24 – Polismyndigheten bringt eine längst überfällige Klärung zur Abgrenzung zwischen wesentlichen Vertragsänderungen und vergaberechtsfreien De-minimis-Anpassungen. Entscheidend ist künftig weniger der absolute Änderungswert als vielmehr die Auswirkung auf den Gesamtcharakter des Auftrags. Bleibt dieser gewahrt, dürfen Verträge angepasst werden, ohne ein neues Vergabeverfahren auszulösen. Nur wenn sich Gegenstand, Art oder Gleichgewicht des Vertrags grundlegend verschieben, liegt eine wesentliche Änderung vor, die erneut auszuschreiben ist.

Das Urteil stärkt somit die Flexibilität öffentlicher Auftraggeber, fordert aber zugleich genaue juristische Prüfung und Dokumentation jeder Anpassung.

Schlussgedanke:
Mit der Entscheidung Polismyndigheten stärkt der EuGH die Rechtssicherheit, verlangt jedoch von öffentlichen Auftraggebern eine differenzierte, dokumentierte Prüfung jeder Änderung. Wer § 132 GWB sorgfältig anwendet, kann Verträge flexibel gestalten – und bleibt dennoch im Einklang mit dem europäischen Vergaberecht.

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